Startseite » Pflanzen » Nachtschattengewächs – Stadtrundfahrt in Solanaceae-City
Bild Solanaceae

Nachtschattengewächs – Stadtrundfahrt in Solanaceae-City

Kaum eine andere Pflanzenfamilie ist so geheimnisumwittert wie die der Nachtschattengewächse: Der deutsche Name existiert seit Jahrhunderten, aber wie und warum er genau entstand, ist unklar. Zur Familie gehören sowohl einige der giftigsten einheimischen Pflanzen als auch Kartoffel, Paprika und Tomate. Zur Verwirrung um Nachtschatten und Nachtschattengewächse tragen nicht zuletzt die Uneinigkeit der Botaniker bei sowie die Tradition, Früchte von Arten zu verspeisen, die andernorts als giftig gelten. Ausnahmslos eint die weltweit verbreitete Familie ihre Vorliebe für Sonne und Wärme sowie für mäßig feuchten, nährstoffreichen Boden – Solanaceae-City präsentiert sich deshalb hell und frostfrei.

Die botanische Metropole der Solanaceae

Stelle dir eine Stadt vor, in der jede Volksgruppe ihren eigenen Bezirk bewohnt. Innerhalb dieser Bezirke besitzt jede Regionalgruppe ihr eigenes Viertel, worin wiederum einzelne Straßenzüge ausschließlich von bestimmten Familien bevölkert werden. Gelegentlich wird eine Familie in ein anderes Viertel umquartiert oder die Botaniker errichten einen neuen Bezirk, weil sie eine weitere Untergattung entdeckt haben. Sämtliche Stadtbewohner sind weitläufig miteinander versippt – je enger sie verwandt sind, umso näher leben sie beieinander. Selbst in einzelnen Häusern gibt es jedoch Unterschiede zwischen den Bewohnern.

Die Topografie sieht so aus:
Ordnung: Nachtschattenartige (Solanales)
Familie: Nachtschattengewächse (Solanaceae)
Gattung: Nachtschatten mit zahlreichen Untergattungen

So unterschiedliche Gattungen wie Alraune (Mandragora), Lampionpflanze (Physalis), Paprika (Capsicum), Bilsenkraut (Hyoscamus), Bocksdorn (Lycium), Engelstrompete (Brugmansia), Stechapfel (Datura), Tabak (Nicotiana), Tollkirsche (Atropa), Petunie (Petunia) und die Solanum-Arten wohnen in der multikulturellen Metropole. Weil seit Linné permanent neue Zuordnungen vorgenommen werden, befindet sich die botanische Stadt stets im Wandel, wobei man ganze Gattungen umbenennt, anders ordnet oder der Pflanzenfamilie überhaupt erst zuschreibt.

Stippvisite im Solanum-Viertel

Allein der Gattung Nachtschatten werden zwischen 1000 und 2300 Arten zugerechnet, die von höchst unterschiedlicher Gestalt sind: Bäume und Sträucher zählen ebenso dazu wie krautig oder Lianen-artig wachsende Pflanzen. Einige sind sehr giftig, während andere vom Menschen als Gemüse angebaut werden. Gemeinsam ist ihnen, dass sie – neben anderen Alkaloiden und Steroiden – Solanin anreichern, weshalb sämtliche Arten der Gattung zumindest in Teilen giftig sind. Die höchsten Konzentrationen des Solanins finden sich für gewöhnlich in den grünen Pflanzenteilen, vor allem in grün bleibenden sowie in unreifen Früchten. Deshalb ist beispielsweise vom Verzehr unreifer Tomaten abzuraten sowie vom Genuss von Kartoffeln, die grüne Stellen aufweisen.

Die Kartoffel (Solanum tuberosum) ist im 16. Jahrhundert zu uns gekommen, vorher kannte man in Europa auch keine Tomaten (Solanum lycopersicum). Beide stammen ursprünglich aus Süd- beziehungsweise Mittelamerika. Die Herkunft der Aubergine (Solanum melongena) ist ungeklärt, sie kam etwas später nach Europa. Tomate und Aubergine wurden von unseren Vorfahren zunächst für giftig beziehungsweise ungenießbar gehalten, weshalb es einige Zeit dauerte, bis man sie schließlich doch als Gemüsepflanzen kultivierte.

Auf unserem Kontinent deutlich länger bekannt sind der Bittersüße (Solanum dulcamara) und der Schwarze Nachtschatten (Solanum nigrum); erste Erwähnungen der beiden einheimischen Arten erscheinen schon bei den Medizinern der griechischen Antike, die vor allem den Schwarzen Nachtschatten wegen seiner beruhigenden Wirkung schätzten. Die Griechen nutzten die Wirkstoffe der Art bei Einschlafbeschwerden sowie als Betäubungsmittel bei chirurgischen Eingriffen. Die nächste namhafte Erwähnung findet sich im 12. Jahrhundert bei Hildegard von Bingen, die den Schwarzen Nachtschatten unter anderem als Schlafmittel empfahl.

Mancherorts wird der Schwarze Nachtschatten als Obst genutzt. Diese Bereicherung des Speiseplans hat durchaus Tradition, wenngleich sie heikel ist: Die völlig ausgereiften Beeren können giftfrei sein, es ist aber auch möglich, dass sie genug Alkaloide enthalten, um Vergiftungserscheinungen zu verursachen. Insbesondere die rohen Beeren sollten nicht genascht werden, vor allem nicht von Kindern. Herkömmlich ist die Zubereitung von Marmelade, wobei die Früchte mehrfach gekocht werden. Allerdings ist Solanin hitzebeständig, sodass es beim Kochen nicht verschwindet, sondern lediglich ins Kochwasser gelangt. (Genau aus diesem Grund ist es empfehlenswert, Kartoffeln stets zu kochen und das Kochwasser hinterher wegzuschütten.) Die Solanin-Konzentration hängt sowohl von der jeweiligen Pflanzensippe als auch von den Standortbedingungen ab. In Gegenden, in denen die schwarzen Beeren traditionell genutzt werden, kommen offensichtlich weniger giftige Sippen vor. In anderen Regionen hat sich die Nutzung nicht durchsetzen können, weil die Beeren dort eventuell mehr Alkaloide speichern.

Eine besondere Sehenswürdigkeit

Die Solanaceae blicken mit Stolz auf ein ganz bestimmtes Bauwerk ihrer Stadt: den babylonisch anmutenden Turm der Namensverwirrung. Dessen Grundstein wurde bereits vor unserer Zeitrechnung gelegt, als griechische Gelehrte die ihnen bekannten Gattungsmitglieder mit dem Oberbegriff „Strychnos“ versahen. Unter dieser Bezeichnung vereinten sich ganz verschiedene Gewächse, von denen etwa 1000 Jahre später nur einige Arten eine lateinisch inspirierte Bezeichnung erhielten. Hildegard von Bingen, deren Latein-Kenntnisse nicht sehr sattelfest waren, fasste Schwarzen und Bittersüßen Nachtschatten unter dem Begriff „Solatri“ (Einzahl: Solatrum) zusammen. Es ist anzunehmen, dass sie damit auf die Wirkung vor allem des Schwarzen Nachtschattens anspielte, indem sie den Namen vom lateinischen Verb „solari“ ableitete, das „trösten“ bedeutet.

In Hildegards und anderen mittelhochdeutschen Texten wird das Kraut „Nachtschade“ genannt, in althochdeutschen Quellen „nahtscato“, im Englischen heißt es Night Shade. Man war sich demzufolge einig, wie die Pflanzen alltagssprachlich genannt werden sollten. Freilich weiß heute niemand mehr, warum eigentlich. Vermutet wird, dass ursprünglich der Schwarze Nachtschatten gemeint war, dessen deutscher Name auf den Bittersüßen überging. Ob die mittelalterlichen Kräuterkundigen aber dachten, dass der Geruch der blühenden Pflanzen nächtliche Kopfschmerzen verursacht oder ob sie die Pflanze wegen ihrer tröstlichen Wirkung bei schlimmen Albträumen so bezeichneten, ist reine Spekulation. Sicher ist lediglich, dass Linné im 18. Jahrhundert den lateinisch korrekten Gattungsnamen „Solanum“ wählte, wobei er augenscheinlich auf die älteren Bezeichnungen zurückgriff.

Zuletzt wurde die innere Systematik der Nachtschattengewächse 1972 von D’Arcy umsortiert und 1991 nochmals überarbeitet, was andere Wissenschaftler nicht davon abhält, über Neugliederungen zu diskutieren. Mit anderen Worten: Familie und Gattungen entwickeln sich, Solanaceae-City bleibt spannend wie eh und je.

 

Gewünscht von: Manu Ela

Bildnachweis:
Titelbild – Solanaceae CC0 Public Domain-Pixabay.com

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert